Hochschulgeschichte

verfasst von Theresa Reis und Annika Wärnke
Quelle links: Stadtarchiv Kassel, Bild-0.523.749, Carl Eberth; Quelle rechts: Stadtarchiv Kassel, Bild-0.536.392, Carl Eberth.

50-jähriges Jubiläum der Universität Kassel!

Zeit um gemeinsam auf die Anfänge und dem Standort am Holländischen Platz zurückzublicken.

Mit dem Beschluss des Landtags im Jahr 1970 fiel der Startschuss für die Errichtung der Gesamthochschule Kassel (GhK). Bereits ein Jahr später, am 26.Oktober 1971, begann im Wintersemester 1971/72 der Lehrbetrieb mit 2.913 Studierenden im kurzfristig errichteten "Aufbau- und Verfügungszentrum" (AVZ) an der Heinrich-Plett-Straße 40 in Kassel-Oberzwehren. Der Hauptstandort der GhK sollte nun in unmittelbarer Nachbarschaft zum AVZ, auf einem ehemaligen Truppenübungsgelände in der Dönche, entstehen. Jedoch entschied sich der Hessische Landtag gegen diesen ursprünglichen Plan. Stattdessen wählte man das Areal der Firma Henschel am Rande der Nordstadt, welches bereits seit Anfang der 70er Jahre von der Firma aufgegeben wurde.

Zeitstrahl

Historischer Einblick

Die Geschichte der Universität Kassel als Institution:

Die akademischen Anfänge in Kassel:

Nachdem 1599 das “Collegium Adelphicum” als akademische Ritterschule und somit erste akademische Einrichtung gegründet wurde, folgte im Jahr 1633 die erste Universitätsgründung am Standort Renthof. Diese hatte allerdings nicht lange Bestand, da kurze Zeit später nach dem 30-Jährigen Krieg die Universität in Marburg wieder entstand. 1832 wird in Kassel Deutschlands erste polytechnische Lehranstalt gegründet, wodurch nun eine Ingenieurausbildung möglich war.

Die polytechnische Lehranstalt sollte zu einer technischen Hochschule weiterentwickelt werden. Diese Pläne scheiterten gut 30 Jahre später aufgrund von mangelnder finanzieller Beteiligung der Stadt endgültig. Knapp 100 Jahre und zwei Weltkriege später, wurden die Forderungen nach einer Hochschule in Kassel immer lauter (vgl. Universität o.J.).

Die Entstehung der ersten Reformuniversität in Kassel

Studentenbewegungen und eine grundlegende Diskussion über Reformen in der Bildungspolitik in den 1967er und 68er Jahren führten in ganz Deutschland zu Gesamthochschulkonzeptionen. Ein Jahr später gründet sich eine Bürgerinitiative, um so schnell wie möglich die Gründung einer Universität in Kassel herbeizuführen. Dies erwies sich als erfolgreich, sodass nach einer Erlassung eines Gesetzes zur Universitätsgründung im Oktober 1971 der Lehrbetrieb an der Gesamthochschule Kassel (GhK) am Standort des AVZ (Aufbau- und Verfügungszentrum) startete.

Auch die Studiengänge der Hochschule für Bildende Künste, der Ingenieurschulen in Kassel und Witzenhausen, der Höhere Wirtschaftsfachschule (HWF) und der pädagogischen und sozialpädagogischen Ausbildungsstätten wurden in die Gesamthochschule integriert. (vgl. Universität o.J.)

Der Hauptcampus am Holländischen Platz

Durch die Tatsache, dass nach dem Krieg die Firma Henschel aufgegeben wurde, entschied man sich 1974 dazu, auf diesem ehemaligen Werksstandort den neuen, zentralen Hauptcampus zu errichten. 1985 war die bauliche Entwicklung des Campus erst einmal abgeschlossen. In den 2000er Jahren folgten dann Erweiterungen auf dem heutigen Nordcampus (vgl. Universität o.J.).

Die Firmengeschichte von Henschel und Gottschalk auf dem heutigen Hochschulcampus

Anfänge der Firma Henschel

Die Geschichte der Firma Henschel begann im Jahr 1810 mit der Gründung des Unternehmens Henschel & Sohn durch Georg Christian Carl Henschel im Freyhaus an der  Weserstraße neben der staatlichen Gießerei, wo Gussteile produziert wurden. 1822 gründete Werner Henschel das “Ziegel- und Braunkohlewerk Möncheberg”, welches die größte Ziegeleianlage Nordhessens darstellte. Durch die Expansion des Unternehmens Henschel mit 200 Arbeiter*innen im Betrieb, wird ab 1835 das Areal zwischen Mönchebergstraße und Ahne mit Werksbauten bebaut.

In dieser Zeit entsteht die noch heute vorhandene Gießhalle. Der Betrieb Henschel expandierte weiter, sodass im Jahr 1860 350 Personen im henschelschen Betrieb arbeiteten und bauliche Erweiterungen entlang der Mönchebergstraße folgten. Durch die Entstehung des Unterstadtbahnhofs im Jahr 1872 an der Wolfhager Str. / Mombachstraße konnten nun die produzierten Dampflokomotiven direkt auf den Gleisen abtransportiert werden (vgl. Ulbricht 2004: 14 ff.).

Gründung der Firma Gottschalk

Etwas später, im Jahr 1881, gründeten Moritz Gottschalk und Johannes Coenning die Zelt- und Tuchfabrik Gottschalk in der Kasseler Nordstadt. Die beiden Firmengründer hatten das Handwerk der industriellen Textilproduktion beim Immobilien- und Textilunternehmer Sigmund Aschrott gelernt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, aufgrund der großen Konkurrenz allein in Kassel, wuchs das Unternehmen in den 1920er Jahren an und galt als der zweitgrößte Arbeitgeber in der Stadt.

Einer der bedeutendsten Aufträge war die Herstellung des Festzeltes für die Einweihung des Nord-Ostsee-Kanals im Jahr 1895. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs profitierte die Firma Gottschalk von Aufträgen für Armeezelte (vgl. HNA 2014).

Weitere Entwicklungen der Firmen Henschel und Gottschalk

Nach dem Tod von Carl Anton Oskar Henschel im Jahr 1894 führt seine Frau Sophie das Unternehmen mit nun 2.000 Beschäftigten weiter. Durch sie entstehen zentrale Einrichtungen zur Wohlfahrt der Arbeiter*innen der Firma Henschel. Ab dem Jahr 1910 war die Firma Henschel mit nun rund 6.000 Beschäftigten maßgeblich am außereuropäischen Export von Lokomotiven beteiligt, es wurden drei Lokomotiven pro Tag fertiggestellt. Im Jahr 1936 wird Henschel zum Rüstungsbetrieb und leistet einen Beitrag zur Entwicklung von Panzern für den Krieg.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden jüdische Unternehmen zunehmend boykottiert. 1938 wurde der jüdische Gründer Moritz Gottschalk enteignet und der Großteil der Firmenanteile gingen in den Besitz von Henschel über.

Nach dem Krieg musste Henschel das arisierte Vermögen an die zurückgekehrte Enkelin von Gottschalk, Leni Frenzel, übergeben (vgl. Ulbricht 2004: 23 ff.; HNA 2014).

Firmenentwicklung nach dem Krieg

In den Fünfziger Jahren liegt der Fokus der Firma Henschel mit verschiedenen Standorten in Deutschland, auf der Lastwagen- und Flugzeugproduktion und der Entwicklung von Elektro- und Diesellokomotiven. Im Jahr 1957 wird die Firma Henschel an die Rheinstahl AG veräußert. Dies kann als Wendepunkt und auch als frühes Ende des Industriezeitalters bezeichnet werden. Auch die Arbeiterquartiere und mitverkaufte Werkswohnungen erleiden in den 1960/70er Jahren einen Niedergang. Da die Arbeiterquartiere in enger Symbiose mit dem Henschelwerk existierten. Es entstanden kleine Läden, Dienstleister und Betriebe in den Erdgeschosszonen und in Verbindung mit Vereinen, Gaststätten und Kirchen eine vielfältige Stadtteilkultur, die sich nach dem Niedergang von Henschel erst wieder mit der Entstehung der Universität entwickelten (vgl. Ulbricht 2004: 50 ff.).

Auch die Firma Gottschalk profitierte vom wirtschaftlichen Aufschwung in den 1950er Jahren, ehe diese 1990 von der Fuldaer Mehler AG übernommen wurde. Bis zur Einstellung des Betriebs 1999 wurde der Kasseler Standort, am nördlichen Teil des heutigen Campusgeländes, beibehalten (vgl. HNA 2014).

EXKURS - Kasseler Modell

Als „Kasseler Modell“ versteht man die Integration unterschiedlicher Hochschultypen in eine neue Hochschulstruktur, sowie die Entwicklung neuer akademischer Studienstrukturen. Dabei sind die wesentlichen Elemente dieses Modells gestufte Studiengänge, Interdisziplinarität, Theorie-Praxis-Verbindung in Forschung und Lehre, berufspraktische Studien und reformierte Lehramtsstudiengänge. Neben der allgemeinen Hochschulreife (Abitur) ist ebenso die Fachhochschulreife zugangsberechtigt (vgl. Universität Kassel, o.J.).

EXKURS - Bildungskrise

Zu Beginn der 1960er Jahre wurde in der Bundesrepublik das dreigliedrige Schul- und Bildungssystem kritisch in Frage gestellt. Der Pädagoge und Philosoph Georg Picht warnte in einem Artikel vor einer „deutschen Bildungskatastrophe“, denn die niedrigen Bildungsausgaben, die geringe Quote an Abiturient*Innen, die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land, könnten Nachteile im internationalen Wettbewerb der Wirtschaft zur Folge haben. Auch die Chancengleichheit verschiedener Bevölkerungsgruppen wurden angemahnt. Mit der Grundgesetzänderung und der Errichtung der „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung“ im Jahr 1969 wurde der Grundstein für eine Weiterentwicklung des Bildungswesens gelegt (vgl. bpb, 2017).

EXKURS - Reform als Alleinstellungsmerkmal

Bereits in den 1970er Jahren bot die Universität Kassel, als erste Hochschule in Deutschland, ein gestuftes Studienangebot an. Mit der europaweiten Vereinheitlichung von Studiengängen und -abschlüssen im Zuge des Bologna Prozesses verlor die Universität Kassel quasi ihr Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Hochschullandschaft (vgl. Uni-Präsident Prof. Dr. Postlep, Rolf-Dieter o.J.).

Schwarzpläne der Universität Kassel

Bauliche Entwicklung des Campus

Die Abfolge der vier Schwarzpläne veranschaulicht die Entwicklung des ehemaligen Henschelbetriebsgeländes zum heutigen Hochschulcampus. Der Schwarzplan von 1877 macht deutlich, wie die Straßenstrukturen mit dem Holländischen Platz, Henschelstraße, Gottschalkstraße und Moritzstraße noch heute mit einer sehr ähnlichen Struktur das Campusareal prägen. In dieser Zeit war ein Aufkommen der Maschinenproduktion zu erkennen. Das Gießhaus im Südosten ist eines der wenigen Gebäudestrukturen, die über die vielen Jahre hinweg bis heute bestehen geblieben ist. 

Der Schwarzplan von 1943 kennzeichnet den Höhepunkt der Produktion zu Kriegszeiten mit den großen Produktionshallen K8 und K9, dessen Grundflächen heute durch die “Diagonale” durchschnitten sind. Im Jahr 2003 ließen sich die damaligen Gebäudestrukturen, die im Rahmen eines Ideenwettbewerbs durch postmoderne Ziegelgebäude der Vorlesungssäle, Bibliothek, Mensa und Wohnheimen ersetzt worden sind, nur noch erahnen. Seit den 2000er Jahren folgen dann die Erweiterungen auf dem Nordcampus, dessen Gebäude nun die sukzessive Zusammenführung der verschiedenen Fachbereiche auf einem Areal ermöglichen (vgl. Ulbricht 2004: 58 ff.).

Gebäudenutzungen im Laufe der Jahre

Gebäudenutzung

Der Plan verdeutlicht die früheren und heutigen Nutzungen markanter Gebäudestrukturen sowie das Alter der verschiedenen Gebäude auf dem Hauptcampus der Universität Kassel. Die ältesten Gebäudestrukturen aus den 1830er Jahren stellen das Fachwerkhaus im Norden (1), der Schornstein neben dem IT-Servicezentrum (7) und das Gießhaus im Süden (8) dar. Die vielfältige Gebäudehistorie kann anhand diverser Gebäude auf dem Campus exemplarisch dargelegt werden: Die Torhäuser A und B haben eine enge Verbindung zu der Firma Gottschalk, die neben der Firma Henschel einen zentralen Betrieb auf dem Areal des heutigen Campus darstellte. Nachdem das Torhaus B 1868 als Eisengießerei mit mechanischer Werkstatt errichtet wurde, kaufte die Firma Gottschalk es im Jahr 1884, um dort Garne, Segeltuch und Textilien für den Zeltbau zu produzieren.

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1955 - Streik bei Henschel, Henschelstraße
Stadtarchiv Kassel, Bild-0.523.749, Carl Eberth.
1959 - Holländischen Platz und K10
Stadtarchiv Kassel, Bild-0.523.101, Carl Eberth.
1955 - Firmenstreik Henschel und Trinkhalle Holländischer Platz
Stadtarchiv Kassel, Bild-0.523.749, Carl Eberth.
1955-1986 - Neubauten der Gesamthochschule
Kassel am Holländischen Platz bei Henschel, Henschelstraße
Stadtarchiv Kassel, Bild-0.536.392, Carl Eberth.

Ausblick

Weitere Konversionsbeispiele als Anreiz zum Weiterlesen und Stöbern: Neben der Universität Kassel gibt es eine Vielzahl an weiteren Konversionsprojekten, die zu neuen Bildungsstandorten wurden. Hier eine kleine Auswahl...

Das Campus Toni Areal ist eine stillgelegte Molkerei in Zürich. Von 1977 bis 1999 war die Schweizer Molkerei der größte Milchverarbeitungsbetrieb in Europa. Nach der Umnutzung befinden sich nun dort die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), das Museum für Gestaltung / Schaudepot, sowie zwei Abteilungen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die Leitidee dieser Konversion ist der Erhalt der Produktion am Standort. Das Haus als Stadt, die Stadt als Haus (vgl.Competitionline 2016).

Eingangshalle Große Kaskade Competitionline (2016): Toni-Areal. CH-8005 Zürich. Realisiertes Projekt. Online verfügbar unter: https://www.competitionline.com/
de/projekte/57461 [Zugriff am 06.05.2021].
Ansicht Campus Toni-Areal Competitionline (2016): Toni-Areal. CH-8005 Zürich. Realisiertes Projekt. Online verfügbar unter: https://www.competitionline.com/
de/projekte/57461 [Zugriff am 06.05.2021].

Das zweite Referenzbeispiele ist der Flughafen Tegel als Forschungs- und Industriepark der Beuth Hochschule. Auf dem ehemaligen Flughafenareal werden in den kommenden Jahren ein Forschungs- und Industriepark für urbane Technologien und ein neues Wohnquartier entstehen. Der effiziente Einsatz von Energie, nachhaltiges Bauen, umweltschonende Mobilität, Recycling, die vernetzte Steuerung von Systemen, sauberes Wasser und der Einsatz neuer Materialien - so lautet der Fokus von Berlin TXL (vgl. agn o.J.).

Beuth Hochschule für Technik Berlinagn(o.J.): Beuth Hochschule für Technik Berlin. Online verfügbar unter: https://www.agn.de/projekt/ansicht
/beuth-hochschule-fuer-technik-berlin [Zugriff am 06.05.2021].
Blick auf den Berliner Flughafen TegelTagesspiegel (2020): Mahnwache am Terminal. Aktivisten von Extinction Rebellion protestieren am Flughafen Tegel. Online verfügbar unter:https://www.tagesspiegel.de/
berlin/mahnwache-am-terminal-aktivisten-von-extinction-rebellion-protestieren-am-flughafen-tegel/26100950.html

Das letzte Konversionsprojekt ist eine ehemalige Kasernen-/Militärfläche. Auf dem einstigen Kasernengelände der Briten erhielt die Hochschule Osnabrück eine Campuserweiterung. Besonders hervorzuheben ist, dass die Stadt Osnabrück den Abzug der Britischen Soldaten und die Auflösung der Garnison nicht als Problem aufgefasst hat, sondern diese nun freiwerdenden Flächen als neue Chance für Wohnraum, Wissenschaft und Wirtschaft genutzt hat (vgl. Hochschule Osnabrück 2014).

Blick auf die Hochschule Osnabrück Hochschule Osnabrück (2020): Hochschule Osnabrück unter Deutschlands besten. Online verfügbar unter: https://www.hs-osnabrueck.de/nachrichten/2020/
04/hochschule-osnabrueck-unter-deutschlands-besten/ [Zugriff am 06.05.2021].
Luftbild Von-Stein-KaserneHochschule Osnabrück (2014): WIR durch die Jahrzehnte. Online verfügbar unter: https://www.hs-osnabrueck.de/wir/wir-stellen-uns-vor/wir-durch-die-jahrzehnte/#c167092 [Zugriff am 06.05.2021].
Ein Seminar der Universität Kassel im Sommersemester 2021
Fachbereich 06 - Architektur, Stadtplanung Landschaftsplanung
Fachgebiet Stadterneuerung und Planungstheorie

Betreuung:
apl. Prof. Dr. habil. Harald Kegler
Dr. Wiebke Reinert

Quellen und Literatur
Teilnehmende

Charlie Bosch
Kerstin Deckers
Franziska Hedderich
Finja Kramer
Bastian Kuczera
Markus Nüsse
Myriam Pregizer
Theresa Reis
Johann Taillebois
Annika Wärncke